REGINE WALTER

Daten zum Leben und Werk

Geboren in Bonn, Gymnasium in Düsseldorf - 2 Jahre Werkkunstschulen Düsseldorf und Krefeld, heute Niederrheinische Hochschule (Malerei, Professor Gerhard Kadow) - 4 Jahre Folkwang-Hochschule Essen: Flächendesign (Professorin Erna Hitzberger) staatliches Diplom - Lebt und arbeitet seit 1969 in Zürich

1982Erstes Atelier in Zürich, Malerei und Zeichnung
1985Erste Einzel- und Zweierausstellungen, Zürich
1986Eintritt in die Produga (Produzenten-Galerie Zürich)
seit 1986Ausstellungen im In- und Ausland
seit 1988Mitglied der GSMBA (Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten) bzw. visarte
1990Erste (Kaltnadel-) Radierungen, Druck: Peter Kneubühler, Zürich
1991Werkbeitrag der Steo-Stiftung, Zürich
1992Stipendium des Istituto Svizzero, Rom
1993Werkbeitrag der Cassinelli-Vogel Stiftung, Zürich
1995Schweizerischer Verein für Originalgraphik, Zürich: Ankauf zweier Editionen (Aquatinta) und Förderer-Honorar
1998Unterstützungsbeitrag der Stiftung Pro Helvetia
2004Stipendium des Istituto Svizzero di Roma a Venezia


Einzel- und Zweierausstellungen (Auswahl)

Galerie Commercio, Zürich 1987

Produzenten-Galerie Produga, Zürich 1988

Galerie Krone 16, Adliswil 1988

Galerie Kurt Schürer, Biel 1989

Galerie Esther Hufschmid, Zürich 1990, 1993

Paulusakademie, Zürich 1991

Galerie Amtshimmel, Baden 1991

Galerie Andy Illien, Zürich 1994

Buchhandlung und Edition Thomas Howeg, Zürich 1994

Foyer Stadthaus Uster 2000

Galerie Ursula Wiedenkeller, Zürich 2002, 2003

Raum für Neue Kunst, Zürich 2005

Kunststube A 4, Zug 2010

Galerie Aquatinta, Lenzburg 2012

Raum für neue Kunst, Zürich 2014

Pressart, Gelbes Haus, Flims 2015

 

Galerie Grashey, Konstanz 1991, 1993, 1994, 1996, 1999, 2010, 2013

Galerie Seltzer / Lejeune, Paris 1994

Galerie im Kunsthaus Erfurt 1999

 

Gruppenausstellungen (Auswahl)

Produzenten-Galerie Produga, Zürich 1986, 1987, 1989

Das kleine Format: Villa Meyer-Severini, Zollikon 1988, 1994, 2000

Museum für Gestaltung, Zürich 1991

Musée des Beaux-Arts, Le Locle: 2e Triennale de l'Estampe originale 1995

ZÜSPA Kunstszene Zürich 1996

Heidi Schneider Galerie, Horgen: Künstlerbücher 1996

Galerie Ursula Wiedenkeller, Zürich 1996, 1999, 2002, 2003

Galerie Lutz & Thalmann, Zürich 1998, 2001

Stiftung Hans Trudel-Haus, Baden 1998

Binz 39, Zürich 1999

Die Halle, Langnau a.A. 2001, 2006

Raum für Neue Kunst, Zürich 2005, 2006, 2007, 2008, 2010, 2012, 2013, 2014

Galerie Carla Renggli, Zug 2008

Raum für Literatur und Kunst, Basel 2010

 

Wanderausstellung «Paare» der Galerie Waltraud Schäfer, Hamburg: München, Bonn, Engen bei Konstanz, Berlin 1989, 1990

Galerie Koppelmann, Köln 1991, 1996

Espace Tour Eiffel «Le Salon», Paris 1994

Galerie Grashey, Konstanz 1995, 1997, 1999, 2002, 2005, 2010

Kunstmarkt Dresden 1997

Edition Howeg in Kuckei & Kuckei Berlin, Galerie Kammer Hamburg 1999

PRESSART: Sammlung Annette und Peter Nobel im Gruner + Jahr Foyer, Hamburg 2004,

Kunstmuseum St. Gallen 2009, Museum der Moderne, Salzburg 2010

James Joyce Unique Books, Ludwigsburg, Sammlung Leo J. M. Koenders 2010 und Museum Gutenberg, Neuchâtel, 2010

 

Publikationen, Editionen, Unikate (Auswahl)

1986Gouache-Zeichnungen in «Stadtzeiten»; Zürcher Autorinnen und Autoren. Verlag Drachen, Zürich
1991-2009Zeichnungen in «Psychologie heute» 1994 Nr.10 (Text: Kenneth Gergen), in «The Saturated Self» (1991) und in «Relational Being» (2009) von Kenneth Gergen (Basic Books, Oxford University Press).
1992Regine Walter (Radierungen), Ilma Rakusa (Gedichte): «Les mots / morts». Edition Thomas Howeg, Zürich (Ankauf: Museum of Modern Art Library, New York, 1993; Grafische Sammlung ETH Zürich, 1995)
1994Regine Walter (Radierungen), Fritz Billeter (Prosagedicht): «Erinnern Vergessen». Edition Thomas Howeg, Zürich.
1994-2003Hefte 1-6: Unikate, farbige Zeichnungen
1995Buch-Unikat «Re»: Farbige Zeichnungen; Textpassage aus Samuel Beckett's «Krapp's Last Tape»
1995«Rauch Erbsen Licht» (15 Text-Zeichnungen), Edition Thomas Howeg, Zürich (Ankauf: Chicago Art Institute Library, 1999)
1997Buch-Unikat «Ziegelrot»: Regine Walter (farbige Zeichnungen), Ilma Rakusa (Gedichte)
1999Buch-Unikat «La maison bourgeoise» - farbige Zeichnungen, Collagen (Ankauf: Stadt- und Kantonsbibliothek Zug, 2001)
2001Buch-Unikat «Let» – Textpassage aus Samuel Becketts «Molloy»
2003Buch-Unikat «Species»
2004/06Buch-Unikat «Sogno Acqua Lastra» I-IV
2005/06Buch-Unikat «Finnegans Wake» I und II (Ankauf: Leo. J.M. Koenders)
2006Buch-Unikat «Giacomo Joyce»
2007Buch-Unikat «Arachné - Pour Madame Bovary»
2008Heft-Unikat «Études proustiennes»
2009Buch-Unikat «Welches Mass» – Peter Handke, Vergil (Sätze)
2010Heft-Unikat «Lukrez»
2010Heft-Unikat «Materialien» (Darwin)
2011Buch-Unikat «Materialien II»
2011Buch-Unikat «Jahreszeiten» - japanische haiku
2011Buch-Unikat «Trovare»
2013 «BILDLOS», Edition Howeg, Zürich (100 Exemplare)
Ankauf: Deutsches Literaturarchiv Marbach und ETH Zürich
2016Buch-Unikat «Misericordia I/II»
2018Buch-Unikat «vita contemplativa»
2019Buch-Unikat «PERLA NERA»
2020Buch-Unikat «SKIZZEN»

Ferner Reden und Rezensionen in diversen schweizerischen und deutschen Kunst-Magazinen und Zeitungen (seit 1987)

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Rezensionen, Kritiken, Reden ab 1987

Sabine Arlitt, 2020

PERLA NERA

ein Künstlerbuch von Regine Walter

Punkte, mehr Punkte, zahlreiche Punkte, (fast) nur, (fast) nichts als Punkte. Ein Meer von Punkten. Punkte? Oder Flecken? Eher Tupfen vielleicht, Male – Murmeln, Perlen, Abdrücke – auch Notationen, Rhythmen. Und Tropfen, Tränen, Tränenschatten. Glanzreflexe oder Goldpartikel?
Nucleus: Ei – oder
oder und Samen - Zelle. Man weiss es nicht.

Erinnerung. Erinnerung ins Auge fassen – und das Vergessen – und das Erinnern des Vergessens. Vergessenes wird zur Erinnerung, ganz gegenwärtig. Verloren Geglaubtes lebt fort. Doch da zeigt sich auch Trauer um unwiderruflich Verlorenes.

Die Welt beginnt in einem Punkt. Perlen wachsen in Muscheln heran. Im verschlossenen Innern sind Geheimnisse aufbewahrt. Mit jeder Hülle wird die Sehnsucht grösser. Reflexe auf der leicht bewegten Wasseroberfläche gleichen Silberperlen. Dann dieses Strömen rabenschwarzer Perlen, immer mehr Perlen sorgen für Dynamik – ein Meer der Unruhe: Sehnen, Verlangen, Getriebensein. Ein Wechselspiel: plötzlich ein Blick zurück. Laden Kieselsteine zum Spiel an einem Flussufer ein? Ruhe, Gelöstheit, ein Nichts schenkt Zufriedenheit, ein erfülltes Bei-sich-Sein.

Berührung – direkt und unmittelbar, dann wiederum stärker reflektiert durch grösseres Abstandnehmen.

Möglicherweise dienten japanische Essstäbchen oder die runden Enden von Bleistiften als Hilfsmittel, als verlängerte Hand, verlängerte Finger, um die Farbe aufzutragen. Distanz und Körpernähe schlagen sich gleichermassen nieder. Neu Aufkeimendes und in der Bewegung des Körpers über viele Jahre Gespeichertes treffen punktgenau aufeinander. Und gleich zeigt sich Verflüssigung in der verdünnt aufgetragenen Tempera. Die Punkte zeigen Fehlstellen, Verformungen, verletzte oder geöffnete Randzonen. Sie tragen gelebtes Leben in sich.

«...Wenn man es nur
wüsste. Warum.
Wir leben, warum
Wir leiden, wenn
man es nur wüsste,
wenn man es nur
wüsste. . .»
(Tschechov, Olga)

Schwarze Perlen sind eine Rarität, ein Juwel auch – im übertragenen Sinn. Das Künstlerbuch wird zu einem Juwel der Intimität, zu einer als Unikat in seiner Einzigartigkeit auch Kostbarkeit. Aus Punkten und Punktvariationen, aus linearen Verlängerungen und Rasterstrukturen entwickelt sich ein Textgewebe. Ein Pulsieren, Klänge.

Dann dieses Licht zwischen den unausgesprochen, dennoch still gesagten Worten.

«PERLA NERA» erscheint wie die Essenz ungezählter Tagebücher.

«Dass ich sah, was ich sah,
und sehe, was ich sehe»,

schiebt sich als Zitat Ophelias aus der Hamlet-Tragödie in die Buchseiten ein. Grösste Rätselhaftigkeit verschmilzt mit der Sichtbarkeit des Gesehenen. Viel Leerraum verbindet rhythmisierende Punktsetzungen, die den Charakter des Atmens evozieren. Repetitionen treiben die Imagination voran. Die transparent-durchlässigen Schichten lassen Körper und Geist, Welt- und Seelenlagen eins werden und geben den vielen kleinen Universen im übergeordneten Universum eine Stimme.

Das Meer pflügen. Die geordnet-ungeordneten Punktfelder scheinen von Freuden und Klagen zu erzählen, von Erfülltheit und Melancholie, von Bindung und Verlust, von Lust und Verlangen. Ein Punkt markiert einen Raum. Ein Spiel der Grenzgänge manifestiert sich; Grenzen trennen und verbinden – das Innen und das Aussen. Der Punkt selbst hütet seine Grenze im eigenen Inneren.

«Wo ist der Spiegel,
und wo ist der Staub?»
(Zen Meister)

Gespiegelte Buchseiten sind nicht deckungsgleich.
Was wäre – wenn?

Materie zeigt Präsenz, Materie entzieht sich der Sichtbarkeit. Die Farben wechseln von tiefstem Schwarz zu wässrig-blassen Natur- und Hauttönen und sie vermischen sich in nuancenreicher Subtilität. Goldpunkte evozieren eine spirituelle, festliche Atmosphäre. Rasterartige Strukturen lassen an Häuser, Fenster und Spielfelder denken. Dann wiederum könnte kahles Astwerk an die Oberfläche drängen, dann dieses Gebilde, formal zwischen menschlicher Figur und einem Baumstamm changierend - wage nur, ahnungsvoll, sublim.

«Das Insekt im
Bernstein
wusste was es tat»
(V.M)

Himmel und Erde, Wasser und Luft könnten in die Erkennbarkeit drängen, doch im gleichen Atemzug verflüchtigen sich Begrifflichkeiten, lösen sich Grenzziehungen und damit Unterscheidungsmomente auf. Eine Träne, ein Tropfen, eine Brustspitze, ein Stern. Kosmische Körper – vielleicht.

Nicht linear bearbeitet wirkt die Reihenfolge der einzelnen Buchseiten. Es könnte zurück- und vorausgeblättert worden sein, was im Hin und Her eine körperliche Ausdehnung initiiert. Das Erleben spielt sich im Universum eines kreisenden Horizonts ab, weltumspannend intim – erotisch verwoben:

PERLA NERA.

Sabine Arlitt, Zürich 2020

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Kenneth J. Gergen, 2014

Bildlos is a refuge. We live now in a world engulfed by floods of ever increasing, ever more intense stimulation, encroaching on our consciousness from all directions. Shrill voices of ‘biggest,’ ‘best,’ ‘colossal’… In the midst of this turbulence, we encounter a soft and beckoning voice, a voice suggesting entry into a world of sensuous tranquility. This is the voice of Regine Walter’s Bildlos. These meditative works invite us into a state of careful and caring comprehension – of subtle nuances, rhythms, and surprises in color, line, and form. The senses reach out to a »there but not there”…mirrored light, undulating shadows, juices of life. There is the quiet presence of humor, spirit, and carnality, set against the backdrop of a threatening unknown. I appreciate in these works a renewal of my senses, the awakening of discernment, and the acute consciousness of my existence.

Bildlos ist ein Refugium. In einer Welt fortlaufend stärker auf uns eindringender Stimulationswellen lebend, bedrängen uns von allen Seiten schrille Parolen – Aufrufe zum ‚Grössten’, ‚Besten’, ‚Kolossalen’. Inmitten dieser Konfusion aber vernehmen wir eine berührend sanfte, uns in eine Welt reinster Stille geleitende Stimme. Es ist die Welt von Regine Walters Werk Bildlos. Diese meditativen Arbeiten stimmen uns auf das sorgsame, behutsame Wahrnehmen feinster Nuancen, Rhythmen und überraschender Konstellationen von Farben, Linien, Formen ein. Die Sinne greifen aus zu einem ‚dort und aber nicht dort’ … widergespiegeltem Licht, wellenförmigen Schatten, Zellen des Lebens. Es begegnet uns dort, hintergründig Unbekanntem, Bedrohlichem entgegengesetzt, die stille Präsenz von Humor, Geist, Sinnlichkeit … - Im Medium dieser Arbeiten widerfährt mir eine Belebung meiner Sinne, die Schärfung meines Feingefühls, das vertiefte Bewusstsein meiner Existenz.

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Florian Weiland, November 2013

Konvergenzen

Regine Walter schneidet Zeitungen – deutsche, englischsprachige, chinesische und arabische – in kleine, schmale Streifen. Die Papierstreifen werden teilweise eingefärbt, aber Reste der ursprünglichen Texte bleiben im Ansatz noch erkennbar. Die Künstlerin beginnt als nächstes damit, die Papierstreifen neu anzuordnen. Fragile Papierbahnen entfalten sich nun in freien Rhythmen, als Liniengespinste über den Bildgrund. Oder sie werden zu Kreisen, Bällen, ja Vogelnestern – der Bezug zur Natur ist unverkennbar – geformt. Äußerste Reduktion auf der einen, maximale Verdichtung auf der anderen Seite.

«Risonare» heißen drei der gerahmten abstrakten Papierarbeiten, die in der aktuellen Ausstellung der Künstlerin in der Konstanzer Galerie Grashey zu sehen sind. Es handelt sich um Zeichnungen, die ohne Stift entstanden sind. Die dünnen Papierbahnen ersetzten die Zeichenfeder, werden zur Linie. Seit 2010 greift Regine Walter zu diesem Verfahren.

In ihrer neuen Werkserie kommt ein neues Medium hinzu: die Fotografie. […] Die aus Papierstreifen ausgelegten, man könnte auch von ‚gebauten’ Kompositionen sprechen, werden nicht mehr selbst ausgestellt, sondern abfotografiert. Die ästhetische Wirkung ist eine völlig andere. Das Haptische geht verloren, doch auch die Fotografien wirken immer noch, wenngleich auf andere Art, plastisch. Die Schattenwürfe spielen dabei eine entscheidende Rolle. Walters sehr eigene Art des Zeichnens und die Fotografie verschmelzen zu etwas Neuem. Dank der Fotografie gelingen der Künstlerin interessante, sehr eigenständige Bildfindungen.

Im großen Ausstellungsraum hängt […] eine Fotoarbeit, die sich von den Papierzeichnungen deutlich abhebt und dennoch ihre Verwandtschaft zu diesen nicht leugnen kann. Die schlicht ‚Äste’ betitelte Arbeit zeigt genau das, was der Titel verspricht: Äste. Die Natur ist an die Stelle der Papierstreifen getreten. Die ausgelegten, feinen Ästchen bilden ein neues Liniengespinst. Man könnte auch sagen, die Natur selbst hat in diesem Fall eine Zeichnung erschaffen.

Wer das Werk von Regine Walter kennt, kennt auch ihre exquisiten Künstlerbücher. Neben zwei älteren Editionen ist ihr neuestes Künstlerbuch ‚Bildlos’ in der Ausstellung zu sehen. Der Titel fasst die Irritation, die Walters Arbeiten auslösen, perfekt zusammen. Bildlose Bilder – gibt es das überhaupt? Die Künstlerin zitiert den malenden Dichter Henri Michaux: ‚Dem Zauber der Ähnlichkeit unterworfen; zuerst der nahen, dann der entfernten Ähnlichkeit und dann der einer Anordnung ähnlicher Elemente.’ Ein Satz, der nicht weniger rätselhaft ist und sich dennoch direkt auf Walters Arbeiten zu beziehen scheint.

(Südkurier, 21. 11. 2013)

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Sabine Arlitt, September 2012

Zwischen den Linien lesen

Rede bei der Ausstellung Peter Haller und Regine Walter in der Galerie Aquatinta, Lenzburg

(8 Seiten) ▶ als PDF lesen...

 

Florian Weiland, Dezember 2010

Streifzüge durch Venedig

Die Lagunenstadt Venedig hat schon viele Künstler in ihren Bann gezogen. So auch Regine Walter. […] Das Ergebnis ist ein außergewöhnliches Künstlerbuch in vier Bänden. […] Regine Walter eignet sich die Serenissima auf höchst eigentümliche, aber gleichwohl faszinierende Weise an. Der Dreiklang «Sogno acqua lastra» (Traum – Wasser – Steinplatte) gibt das Motto vor. Sie beginnt damit, zerknülltes Seidenpapier in schmale Papierstreifen zu zerschneiden. Die fragilen Papierbahnen, verschieden bedruckt oder eingefärbt, entfalten sich in freien Rhythmen auf den Buchseiten und sind nur noch ein ferner Nachklang der aufgenommenen Eindrücke ihrer Streifzüge durch Venedig. Mit jedem Band löst sie sich mehr von den gegenständlichen Bezügen.

Diese neu entwickelte Formsprache überträgt Regine Walter auch auf ihre Papierarbeiten. Sie gleichen abstrakten Zeichnungen, bestehen jedoch ebenfalls primär aus feinen Seidenpapierstreifen, die auf das Papier geklebt werden und dabei eine zarte haptische Qualität entwickeln. Anfangs finden sich noch Hintergrundzeichnungen – gemalte Balken oder quaderförmige Strukturen. Doch die Künstlerin wird zunehmend freier in ihren Kompositionen.

Weitere Künstlerbücher […] variieren dieses Vorgehen. Manchmal schneidet Walter die Buchseiten auf und bindet Zitate oder einzelne Wörter ein. Mitunter finden sich auch kleine, minimalistische Zeichnungen. Aber stets bleiben die Seidenpapierstreifen das bestimmende Gestaltungselement. Oft dienen literarische Quellen – Lukrez oder Flaubert – als Ausgangspunkt. Eines der Bücher («Materialien») bezieht sich auf die Lehren Darwins, ein anderes, mit zahlreichen kleinen Aquarellen illustriertes, folgt dem Lauf der Jahreszeiten.

Seit kurzem beschäftigt sich Regine Walter auch mit der Fotografie. Mit ihren jüngsten Arbeiten zeigt sich uns die Künstlerin von einer ganz anderen Seite. Doch letzten Endes gibt es zwischen den Fotografien und den Papierarbeiten eine grundsätzliche Gemeinsamkeit. Beide Werkgruppen leben durch ihren hohen Abstraktionsgrad und ihre gewollte Unbestimmtheit. […] Und mit der Fotoarbeit ‚Giardino‘ schließt sich der Kreis. Die Aufnahme, die durch differenzierte Grautöne und die feinen Verästelungen der Pflanzen beeindruckt, entstand in einem verfallenen Garten. Dieser befindet sich, natürlich, in Venedig.
(Südkurier, 28.12.2010)

 

Wolfgang Holz, Januar 2010

Literatur wird weitergeschrieben

Wie dem Schlund des Reisswolfs entrissen und behutsam geborgen, arrangiert Regine Walter [...] papierene Fäden collageartig zu kunstvollen, teils figürlich anmutenden Gebilden und Chiffren. «Risonare» heissen diese zarten Werke – und manchmal lassen sie tatsächlich im Bewusstsein des Betrachters gespeicherte Bilder wieder anklingen: ein Gedicht, ein Torso.

Konzeptionell, ja philosophisch sind einige ihrer Künstlerbücher anzuschauen. In ihnen illustriert und kommentiert sie nicht nur Texte. [...] Eine reizende Idee: Schrift wird wiedergeboren, Texte entstehen neu. [...]

Noch sinnlicher experimentiert die Künstlerin in ihren «Études Proustiennes» mit Texturen. Und ist sich sicher, in Anspielung auf Marcel Prousts Opus magnum «À la recherche du temps perdu» die Zeit wiedergefunden zu haben.
 (Neue Zuger Zeitung, 21. 1.2010)

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Antonino Orlando, Februar 2000

Fülle, Überfülle, Reduktion

Es ist schwierig und im Grunde unsinnig, Regine Walters gemalte Bilder mit Worten, die Konkretes bedeuten, beschreiben zu wollen. Denn sie malt keine Dinge. Wenige Grenzlinien betonen die Unterschiede zwischen zwei Farbzonen, und sie geben dem Bild einen gewissen Halt, machen uns darauf aufmerksam, dass es alles andere als chaotisch ist. Doch liegen ihm nicht geometrische Ordnungen zugrunde, auch nicht im verborgenen. Es sind vielmehr ineinander übergehende Räume voller Bewegung, Auflösungen und Verdichtungen, wie sie das Geschehen in der Natur ausmachen. Wir erleben die verschiedene Grade aller möglichen Natureigenschaften, gewissermassen die verschiedenen Aggregatzustände und Erscheinungsarten der natürlichen Stoffe und Formen, die verschiedenen Grade des Grossen und des Kleinen, des Schweren und des Leichten, des Festen und des Durchsichtigen, des Diffusen und des Prägnanten. Nun haben an diesen Graden alle Dinge teil, und es treten diese Grade bei jedem Ding in unterschiedlichem Mass und in anderer Zusammensetzung auf. Aus diesen Gründen muss Regine Walter sie nicht als einzelne wie in einem Katalog abbilden, es genügt und ist auch viel besser, dass sie den Eindruck der unendlichen Vielfalt und der nie abschliessbaren Entwicklungen in der Natur erweckt.

Sie tut das wie auf ihren anderen Bildern mit ihrer sorgfältig wählenden, langsam sich steigernden und immer bewusster werdenden Malweise. Die wenigen Mittel des Farbauftrags, die sie braucht, setzt Regine Walter so gekonnt und variabel ein, dass Bildfindungen von naturhaftem Reichtum entstehen. Aus wenigem wird viel, und in der Beschränkung zeigt sich die Meisterin. Die Erfindungskraft verpufft bei Regine Walter nicht in den Äusserlichkeiten der Technik, sondern die Künstlerin arbeitet an den Gestalten der Phantasie so lange, bis diese ihre Bestimmung und Vollendung erreicht haben. [...]

Wohin werden die neuen Wege Regine Walter führen? Die Künstlerin selbst spricht von Reduktion - das heisst Zurückführung, Verringerung, zum Beispiel Zurückführung aufs Wesentliche, Verringerung des Überflüssigen. Das bedeutet nun aber nicht, dass sie uns bis jetzt Unwesentliches, Überflüssiges zugemutet hätte. In den hier ausgestellten Werken ist wohl «viel» zu sehen, aber es ist künstlerisch nicht zu viel. Auf den Ölbildern sind es die Fülle des Lebens und das Fassungsvermögen des menschlichen Geistes, der ihr begegnet. Auf den collageähnlichen Bildern kann es tatsächlich ein «zu viel» sein, ein Zuviel an Möglichkeiten in der vernetzten Gesellschaft, ein Zuviel der Waren und der Begehrlichkeiten in der Konsumwelt. Das Viele auf den Bildern in Öl ist etwas Gutes, Natürliches, das Zuviel auf den collageähnlichen Bilder dagegen ist ein Umstand, ein Missstand, den die Künstlerin darstellt und kritisiert.

Wer weiss, vielleicht wird Regine Walter uns, wenn sie den Weg der Reduktion beschreitet, nicht das ganze Viele vor uns ausbreiten und nicht Kritik am Zuviel üben, sondern uns in dem Wenigen beides auf einmal entdecken lassen: Vielleicht wird sie auf ein und demselben Bild Hinweise auf das Viele geben und die Gefahr des Zuviel am Horizont des Gezeigten andeuten. Das werden bewegte Abläufe und spannende Geschichten sein, Geschichten zwischen der Faszination durch das Viele und dem Vermeiden des Zuviel!

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Angelika Affentranger-Kirchrath in der NZZ vom 5. November 1998

«Und Schweres wird leicht»

Acht Künstlerinnen im Trudelhaus Baden

Ein Stein wird in Meret Oppenheims Zeichnung so leicht wie eine Sternschnuppe. Ein Mädchenröckchen, von Regine Walter gezeichnet, schwebt davon wie ein Herbstblatt im Wind. «... und Schweres wird leicht» heisst es am Anfang eines haikuartig kurzen Gedichtes von Ilma Rakusa, das weiter zu bedenken gibt, wie nahe das Leichte oft beim Schweren ist. [...]

Für Regine Walter sind literarische Texte oft erster Anlass zum bildnerischen Schaffen. In ihren Aquarellen erscheint eine feenhafte Figur mit dem Namen «Albertine», welche einer Gedankenfigur von Proust eine Bildgestalt verleiht. Im Illustriertenbuch, einem gedruckten Buch mit gleichwertigen Text- und Bildanteilen, reagiert sie genauso sensibel auf die Worte von Dichtem wie diese umgekehrt ihre Zeichnungen als schöpferischen Impuls für ihr Schreiben aufnehmen.

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Kenneth J. Gergen, 1996

Rhythmus und Resonanz

In a world staggering under the explosion of information, images, idols, and ideologies, Regine Walter's discerning sensitivity helps us to locate a deeper aesthetic. Where others see chaos and conflict, she discovers connection, rhythm and resonance. We are rewarded in her work with fine weavings of past with present, profundity with play, and passion with pop. This is a rich and powerful aesthetic, and a reassuring resource for entering the future.

In einer Welt, die in der Flut von Informationen, Bildern, Idolen und Ideologien zu ertrinken droht, hilft uns Regine Walters scharfsinnige Sensibilität, eine tiefere Ästhetik zu orten. Wo andere Chaos und Konflikte sehen, entdeckt sie Verbindung, Rhythmus und Resonanz. Ihr Werk wirkt ein feines Gewebe aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Tiefe und Spiel, aus Leidenschaft und Pop. Es zeugt von einer reichhaltigen mächtigen Ästhetik und ist eine Ermutigung für den Gang in die Zukunft.

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Ursula Grashey in der Galerie Grashey, Konstanz, 16. April 1996

À voir, avoir

Komplexes und Triviales, Aktuelles und Historisches gehen in Regine Walters Collagen Korrespondenzen ein und werden durch die Art der geschichteten, beinahe barocken Verschleifung einer Verfremdung zugeführt, die künstlerisch überzeugt. Konstruktion und Dekonstruktion werden methodisch angewandt mit hoher künstlerischer Qualität ins Bild gebracht.

Regine Walter gab diesen Collagen den bezeichnenden Titel «à voir, avoir», also «zu sehen - haben». Dieser Titel ist für sie so etwas wie ein Leitmotiv für unsere Wahrnehmung. Ihre Ausdrucksmittel sind die Konsumgüter, die uns auf Schritt und Tritt begleiten. Der Warencharakter der Dinge steht in unserer Gesellschaft so im Vordergrund, dass wir ständig im Unterbewusstsein aufgefordert werden, die Dinge, die wir sehen, auch haben zu wollen. Die flüchtigen visuellen Reize, dieses Zuviel an Oberflächenreizen nimmt Regine Walter in sich auf und nutzt es zur künstlerischen Gestaltung.

Es ist aber - selbst wo sie Marx und Engels ins Bild setzt - nichts Moralisierendes in ihren Collagen. Der äussere Schein der Produkte wird ästhetisch stilisiert, so dass der Verführung des Sehens die Verführung des Besitzenwollens folgt. Der Spruch von Nina Hagen «es ist alles so schön bunt hier, ich kann mich nicht entscheiden» trifft heute mehr denn je zu.

Die Überfülle der Dinge in den kleineren Collagen erfährt formal eine Übersteigerung, indem sich die Kompositionen - auch in ihrer warmen, leuchtenden Farbigkeit - den Trompe l'oeuil-Effekten der Deckenmalerei des italienischen Barocks annähern. [...]

Die permanente Konfrontation von Gegensätzen, der postmoderne Umgang mit Bildzeugnissen der Vergangenheit, wird mit den Mitteln der Zersplitterung auf die Spitze getrieben bis hin ins Absurde.

Der trügerische Schein der Dinge wird offenbar. Die Bilder beziehen ihren Reiz aus der Art und Weise der Verfremdung gewohnter Dinge.

Oder haben wir es hier am Ende mit einer Spielart des Rebus zu tun, einer Art Bilderrätsel? Wir sind ständig aufgefordert, die collagierten Bilder zu lesen und für uns assoziativ zu ergänzen. Es macht Spaß, die Details für sich zu entdecken und mit Phantasie zu füllen.

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Sabine Arlitt in der «Zürichsee-Zeitung» vom 21. Februar 1994

Sprechende Spuren

Vier Jahre sind es her, seit ich Regine Walter das erste Mal begegnet bin. In ihrem Atelier in Zollikerberg waren mir sofort die vielen kreuz und quer auf einem Tisch liegenden Bücher aufgefallen. Auf dem Boden war eine grosse, noch nicht ganz fertige Arbeit ausgebreitet, deren vielschichtiges Figurengewebe mich unmittelbar einspannte. Regine Walter begann zu erzählen. Eine kleine Figur hatte auf einem grossen weissen Blatt Einzug gehalten. Dann war lange Zeit nichts geschehen. Allmählich zog sich eine netzartige Struktur über die ganze Fläche. Neue Figuren traten hinzu, was Berührungen, Überlagerungen und geflechtartige Verbindungen zur Folge hatte. «Fuge» hiess das so entstandene, aus hauchdünnen Farbschichten aufgebaute Werk. Der Raster, der sich aus dem Knäuel verzahnter Körper und Körperteile herausschälen liess, glich einer Art Kommunikationssystem. Kein einengendes Schema bestimmte die Rollen der Akteure. In diesen Verbundsystemen war das Verhältnis zwischen Träger und Last genauso wandelbar und fliessend wie das zwischen Macht und Ohnmacht. Die Figuren wurden zu allgemeingültigen Zeichen, gleichzeitig kristallisierten sich Sprache und Sprachlosigkeit, Bild und Sprache wie auch das sprachlose Sprechen als Kernthemen der Künstlerin heraus.

In «erinnern vergessen» (Edition Howeg, Zürich 1994) erhalten die Chiffren eine betont persönliche Note. Nun werden individuelle Erinnerungsbilder wie ein leerer Teller, Kieselsteine, Schulhefte und Bücher in die Rasterstrukturen eingewoben. Die Hand gräbt sich ein und kreist. Verweilen und drängende Bewegung treten gegeneinander an. Überlappungen und Überblendungen aktivieren das offene Sprachnetz, in dem kein geordnetes Vorher und Nachher auszumachen ist. Immer neu formatieren sich die Beziehungsverhältnisse im Dickicht der Gewebestrukturen. Motive werden gedreht, das Drehen auf einzelne Blätter übertragen. Einzelne Elemente treten an anderer Stelle wieder auf, nicht nur äusserlich in neuem Zusammenhang stehend, sondern auch innerlich modifiziert, in und durch die Zeit gewandelt. Vieles ist ausgelöscht und doch enthalten, vieles präsent, doch versunken in der Tiefe des Schweigens. Ort- und zeitlos flattert ein Kinderkleidchen im Raum. Regine Walter trug es als sechsjähriges Mädchen.

Neben reinen Kaltnadelradierungen kombiniert Regine Walter die Kaltnadel-Technik auch mit der Ätzung. Entstanden sind all ihre grafischen Arbeiten im Kupferdruck-Atelier von Peter Kneubühler […] Die Radierung ist eine ideale Technik, um dem Thema des Erinnerns und Vergessens nachzuspüren. Radierend geht Regine Walter unter die Haut, spürt sie Verschüttetem nach, lässt sie sich im Fluss der Assoziationen treiben. Kieselsteine erinnern an Kinderspiele am Ufer des Rheins. Wie Glaskugeln einer Wahrsagerin erscheinen sie auf einem anderen Blatt. Radieren ist in erster Linie eine Linienkunst. Die Kraft ihres Ausdrucks ertastet man wie den Sinn eines Buchs. Punkte, Linien und die Leere haben ihren eigenen Code. Die beim Radieren entstehenden Grate werfen Schatten, und so schwingt die Botschaft der beim Ritzen verdrängten Materie stets mit. Sprache führt auch zur Sprachlosigkeit, und im Gestalt-Annehmen zersetzen sich die Dinge.

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Kenneth J. Gergen, 1993

Halbschattenwelt

Regine Walter invites us to explore the mysteries of the penumbra - a latitude falling between the twin purities of light and shadow - of being and nothingness, of life and death. What do our wanderings reveal? For me it is a haunted land of multiplicitous irony, where each identity gives way to its negation. Where subtlety and boldness, tenderness and aggression, animation and inertia, prudence and sexuality, structure and plasticity interweave, in mutual affirmation and denial. In Gestalt-like bursts our consciousness shuttles between the objects as represented by the works and the texture of the works - now objects in and for themselves. But, in the end, is this rich play of oppositions not more revealing than either of the polar clarities? For 'to behold' in all purity is to obliterate the ground which gives rise to figure, the context from which text draws its being. Here, in the seething shadows, our palms embrace totality.

Regine Walters Malerei fordert dazu heraus, die Geheimnisse des Halbschattens zu erkunden - von Räumen jenseits der reinen Polaritäten Licht und Dunkel, Sein und Nichtsein, Leben und Tod. - Wohin führen uns solche Erkundungsreisen? - Für mich ist diese Kunst ein Wunderland ironischer Mehrfachcodierung. In ihm schlägt jede Identität in ihr Gegenteil um, verschlingen sich spannungsreich - indem sie sich zugleich verneinen - Zartsinn und Aggressivität, Vitalität und Trägheit, Prüdheit und Sexualität, formgebende Strukturen und Plastizität. Unsere bewusste Wahrnehmung schwankt haltlos hin und her zwischen den im Bild repräsentierten Objekten und der Machart der - nun selber Objekt werdenden - Bildwerke. Aber ist dieses reiche Spiel der Gegensätze letztlich nicht enthüllender als jede der polaren Eindeutigkeiten für sich? Auf deren Klarheit zu bestehen bedeutet, den Hintergrund, vor dem sich Gestalten abheben, und den Kontext zu verleugnen, der Texte erst ermöglicht. Hier, in dieser gärenden Urschattenwelt, umfangen unsere Hände Alles.

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Fritz Billeter im Zürcher Tages-Anzeiger vom 15. Januar 1993

Nun sind es sanfte Riesen

Regine Walter lotet seit rund zehn Jahren das Thema Mensch aus, sie gewinnt ihm immerfort neue Seiten ab, seit dem Frühling des vergangenen Jahres wiederum auf ganz eigene Art.

Da fällt zunächst auf, dass die Künstlerin die Farbe für sich entdeckt hat. Wenn sie vorher dem Hell-Dunkel-Kontrast und tonigen Schattierungen den Vorzug gab, dann setzt sie heute warmes Kupfer gegen ein kühles Blau, grünlich zu gelblich in leichtem, aber deckendem Auftrag. Aber auch das Formerscheinen der Figuren hat geändert: Früher wanden sich bei Regine Walter die Menschenpaare in umstrickender Umarmung; die Glieder verflochten sich, die Körper verschmolzen. Das Symbol Mensch wurde im freien Fall bildhaft festgehalten, oder aber im Aufprall; zwischen Kampf und Koitus bestand kaum ein Unterschied.

Jetzt ist das «Nordische», Expressive, unter Hochspannung Gesetzte, im Schmerz Deformierte zurückgenommen. Es wäre übertrieben zu sagen, nun habe sich alles in den Bildern von Regine Walter in Harmonie und Wohlgefallen gelöst; aber eine gewisse Entspannung ist eingetreten. Zwar ist die Bildkomposition nach wie vor gewollt unübersichtlich, mit Überblendung und Überlappung wird nicht gespart, die Leiber sind noch häufig aufgeklüftet oder sie zerfallen in Fragmente: Füsse, Hände, Gebärden erscheinen abgetrennt oder gewinnen doch eine Art Eigenleben. Aber von Pathos und Leiden sind diese Figuren entlastet. Sie stürzen nicht mehr, sie schweben - ein bisschen embryonal, als sanfte Riesen.

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Sabine Arlitt in der «Annabelle», Mai 1990

Isolation und Verbundenheit

Eine kleine Figur hielt Einzug auf einem grossen weissen Blatt. Dann geschah lange Zeit nichts. Allmählich zog sich eine netzartige Struktur über die ganze Fläche. Regine Walter, die in der Zürcher Galerie Esther Hufschmid Bilder und Zeichnungen ausstellt, hatte die Figur in alle vier Himmelsrichtungen gedreht. Neue Figuren traten hinzu, was Berührungen, Überlagerungen und geflechtartige Verbindungen zur Folge hatte. «Fuge» heisst das so entstandene, aus hauchdünnen Farbschichten aufgebaute Werk, in dem die spontane Gebärde ihrer früheren Bilder deutlich zurückgenommen wurde. Aus dem Knäuel verzahnter Körper und Körperteile hat sie einen Raster, ein Beziehungsgeflecht, eine Art Kommunikationssystem herausgeschält. [...]

Bei aller Kontrolliertheit haben die Arbeiten Regine Walters nichts an Expressivität verloren. Nur die Melodie, nur die Sprache hat sich geändert. Die Intensität zeigt sich nicht mehr vorrangig im gestischen Ausbruch, sondern vielmehr in der widerhallenden Kraft einer unsichtbaren Tiefendimension. In diesem tieferen Bereich scheinen Machtverhältnisse durch Prinzipien der Verbundenheit überwindbar zu sein. So sind denn Regine Walters malerisch-zeichenhafte Lebensgewebe gleichsam Verbundsysteme, in denen die Rollen von Träger und Last nicht fixiert sind.

Während die letztes Jahr entstandene Serie «Macht Ohnmacht» den Betrachter in ein Wechselbad der Gefühle warf, binden ihn die neueren Arbeiten in ein sachte vor- und zurücktretendes System ein, das aus Körpern besteht, die in der Fläche modelliert erscheinen. Die Sprache der androgynen Figuren hat sich zu einer reinen, allgemeingültigen Zeichensprache entwickelt, die Sender und Empfänger über einen humanen Verständigungskanal verbinden möchte.

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Kenneth J. Gergen, 1991

Prekäre Balancen

Regine Walter's works recall to mind a state of precarious balance between raw and eruptive energy on the one hand, and exacting and authoritative control on the other. As we are drawn by the infinity of careful detail into the cavern of portentous powers, we are also likely to confront images of vague familiarity. These are the images of the self, not as distinct from nature and from other selves, but as organically submerged within the ethos of otherness. Does she not tell us in these works that it is in those precious moments of absorption that we enter a new realm of being within non-being, that we abandon the narcissism of the particular One we are to gain transcendent grace within the Multitude?

Regine Walters Arbeiten evozieren Zustände eines prekären Gleichgewichts zwischen naturwüchsigen Energieausbrüchen auf der einen, deren geistvoll durchreflektierten Kontrolle auf der anderen Seite. Die zahlreichen feinen Details, die unsern Blick anziehen, führen uns in immer geheimnisvollere Bedeutungsschichten - in denen wir doch unversehens Bildern begegnen, die uns bekannt anmuten. Es sind die Imagines eines Selbst, das sich, von der Natur oder vom Selbst anderer ununterscheidbar, zwanglos dem Ethos des Anderssein fügt. Wollen uns Regine Walters Arbeiten damit etwa erzählen, dass es eben solche kostbaren Momente des Aufgehobenseins sind, die uns - mitten im Nichtsein - neue Bereiche des Seins eröffnen? Und dass wir in diesen Momenten die Ichbefangenheit des einen besonderen Ichs, das wir sind, abstreifen, und das Geschenk des Aufgehobenseins im Andern annehmen dürfen?

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Fritz Billeter im Zürcher Tages-Anzeiger vom 11. Mai 1990

Aufs Rad geflochten

Regine Walters Malen - oft ein Zeichnen mit dem Pinsel - kreist unablässig um die Menschenfigur. Diese muss sich viel gefallen lassen: Sie wird aufgesplittert, aufgerissen. verflochten; die Figuren verschmelzen, durchdringen und überlagern einander.

Sie werden, sie verändern sich, sind nicht als feste Größe gegeben. Man könnte sie pathetische Figuren nennen - wäre heute das Wort Pathos, das man gern mit hohlem, großsprecherischem Schwulst gleichsetzt, nicht derart in Verruf geraten. Pathos bedeutet ursprünglich aber etwa «Spannung» und «Leiden». Einer Gruppe kleinformatiger Bilder gab Regine Walter den Titel «lm Rad» - auf das Rad des (inneren) Schicksals gespannt. [...]

Seit kurzem hat sich Regine Walter zum großen Format durchgekämpft. Aber diese Freiheit ist ihren Menschenwesen kein Geschenk, sondern gefährliche Grenzenlosigkeit. Ein Unten und Oben, ein Links und ein Rechts ist nicht mit Sicherheit auszumachen: Die Figuren stürzen, schweben, brechen nieder. Sie stoßen nicht mit dem Kopf an den Himmel, stehen nicht mit den Füssen fest auf dem Erdengrund; sie taumeln kopfüber, kopfunter. Regine Walter dreht das Blatt während des Malens, so dass es im Lauf des Arbeitsprozesses einen Winkel von bis zu 360 Grad beschreiben kann. Diese Richtungslosigkeit - oder aber Allgerichtetheit - ist durchaus Ausdruck eines Lebensgefühls. Und doch: Die Figuren stützen sich gegenseitig und zerstieben so nicht in alle Winde, weil sie sich zu einer Gesamtkomposition verflechten, die sich selbst trägt.

Das heißt auch: Diese Bilder eröffnen alles in allem doch nicht nur eine zerbrechende oder deprimierende Welt, nicht bloß Kampf und Krampf. Sparsam verwendete Farben können den Körpern von Regine Walter einen Hauch von Samt und Haut, eine warme Sinnlichkeit eingeben.

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Kenneth J. Gergen, 1989/90

Sprung in die Tiefe

Regine Walter's work takes the eyes by siege - intensities of movement, anguishing angularities, and torrential ambiguities - sending logic to sea as the deeper energies wend toward epiphany. The eyes search for signs of the familiar - domains of respite. And we locate them here and there - faces from a dream, languishing half-figures, primordial hands. And yet the very impulse toward recognition subverts itself. For at the edges of the familiar, within the recesses of the almost known, hovering in the shadows, is the haunting spirit of the unfathomed - inviting us, daring us, daunting us to plunge into the potential for new realities - and ultimately a reconfiguration of our interior worlds.

As the foreground of consciousness is consumed by the gettings and spendings of daily life, the penumbra remains unvoiced. There, at the margins of consciousness dwell the phantasms of existence - the negations of our carefully executed projects, the detours from our straight and narrow narratives, and the ironic commentary on our fumblings toward authenticity. For me, Regine Walter's work lends visual form to these chimeras of the inner region. As I gaze on these vividly wrenching forms, I feel a whirring resonance - an inarticulable accord - a welcome sense of communion. In the foreground of consciousness we are separate, self-centered and alone. It is in this nether region that we locate a common humanity. And, in Regine Walter's work, the bond is celebrated.

Regine Walters Arbeiten erobern das Auge im Sturm - mit Bewegungsintensitäten, jähen Richtungswechseln und einer mitreissenden Ambiguität, die die Logik suspendiert, und tiefere Kräfte entbirgt. Das Auge sucht nach Zeichen, die ihm vertraut sind, Beruhigungszonen. Tatsächlich erkennen wir solche da oder dort: Traumgesichter, liegende Halbfiguren, Urbilder von Händen. Doch untergräbt der Impuls selbst, der erkennen möchte, sein eigenes Unterfangen. In den Randgebieten des Vertrauten und fast schon Durchschauten geht der Geist des Unergründlichen um. Er lädt dazu ein, ja fordert uns zwingend dazu heraus, den Sprung in die Tiefe neuer Realitäten zu wagen - dazu, letztlich, unsere inneren Welten neu zu konfigurieren.

Während das Bewußtsein sich vordergründig mit dem Hin und Her des täglichen Lebens beschäftigt, bleibt, was der Halbschatten birgt, unausgesprochen. Dort am Rande des Bewußtseins hausen die Phantasmen der Existenz: das, was unsere sorgfältig ausgeführten Pläne durchkreuzt, unsere geradlinigen Erzählungen auf Abwege bringt, und unsere tastenden Bemühungen um Authentizität ironisch bricht. Für mich geben Regine Walters Arbeiten solchen Chimären des Innenlebens visuellen Ausdruck. Während ich auf diese sich lebhaft windenden Figuren blicke, spüre ich eine schwirrende Resonanz, einen unaussprechlichen Einklang, ein angenehmes Gefühl von Verbundenheit. Im Vordergrund des Bewußtseins sind wir voneinander getrennt, selbstbezogen und einsam. Es ist aber in jenem tiefer gelegenen Bereich, wo wir eine gemeinsame Menschlichkeit spüren. Regine Walters Arbeit zelebriert diese Gemeinsamkeit.

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Fritz Billeter im Zürcher Tages-Anzeiger vom 27. Februar 1987

Körper wie Schatten

Im vergangenen Herbst und in diesem Winter bekam Regine Walter wieder Lust auf Farbe. Die Figuren werden nun nicht mehr isoliert - sie bilden Gruppen und Szenen. Was sie genau miteinander vorhaben, wird bis zu einem bestimmten Grad bewußt im unklaren gelassen: Sie umarmen und bekämpfen sich; verschmelzen und trennen sich. Ein weiteres Mal hat sich ihre Konstitution gewandelt. Der Körper wird nun zum Farbzeichen deformiert und so noch einmal mit gesteigertem Ausdruck aufgeladen.

Körper wie aus Puzzleteilen, die sich erst auf den zweiten Blick annähernd zu einem Ganzen fügen; Körper wie Schatten, fast identisch mit ihrer Gebärde; Körper als Farbträger mit überlängten, dehnbaren Gliedmassen. Das bedeutet doch insgesamt: Die Frau (der Mensch) ist nicht auf einen fertigen Kanon verpflichtet; er ist einerseits formbar und kann sich anderseits aus innerem Antrieb entwickeln. Wandlung und Ziel sind ihm eins.

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Kenneth J. Gergen, 1987

Leidenschaft und Entfremdung

At a time when the impact of so much painting is limited to the realm of the purely visual, Regine Walter's work is a rare treasure. Seldom have I encountered modern work with such rich psychological evocation. One finds oneself breathlessly teetering on an emotional tightrope stretched between passion on the one side and alienation on the other, between ecstasy and anger, sensuality and sadness. I come away from these works profoundly stirred.

In einer Welt, in der sich die Wirkung der Malerei so häufig aufs rein Visuelle beschränkt, ist Regine Walters Werk eine kostbare Ausnahme. Selten ist mir moderne Kunst mit derart reichen psychologischen Bezügen begegnet. Es ist, als ob man atemlos auf einem gespannten Hochseil der Gefühle die Balance halten müsste, zwischen Leidenschaft auf der einen, Entfremdung auf der anderen Seite, zwischen Ekstase und Zorn, Sinnlichkeit und Trauer. Mich wühlen diese Arbeiten auf.